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2023-01-05 18:15:28 By : Mr. Allen Du

E s könnte der Durchbruch werden für eine Energietechnik, die Strom fast verlustfrei überträgt: Das mit einem Kilometer längste Supraleiterkabel der Welt, wird in der Essener Innenstadt verlegt. Im März beginnen die Arbeiten. Das neue 10.000-Volt-Kabel aus einem keramischen Supraleiter misst nur 15 Zentimeter im Querschnitt und wird eine Übertragungsleistung von 40 Megawatt haben, fünfmal mehr als ein Kupferkabel gleichen Volumens. Im Pilotprojekt „Ampacity“ testet der Energieversorger RWE wie die effiziente Technik in größerem Umfang eingesetzt werden kann. Supraleiter gelten als Schlüsselkomponenten im künftigen Smart Grid. Schon der niederländische Physiker Heike Kamerlingh Onnes, der den supraleitenden Effekt 1911 entdeckte, war davon überzeugt, das Kabel mit solchen Eigenschaften elektrischen Strom über große Entfernungen transportieren können.

Damals noch Vision, nun auf dem Weg in die Realität. „Supraleiter werden über kurz oder lang die Stromverteilung in unseren Städten revolutionieren. Denn die Elektronen können sich durch diese Leitung fast ohne Widerstand ihren Weg bahnen. Außerdem braucht das Supraleiterkabel viel weniger Platz als ein herkömmliches Kupferkabel. Große Umspannanlagen könnten auf lange Sicht überflüssig werden“, sagt RWE-Deutschland-Chef Arndt Neuhaus. Produziert wird das Kabel vom Spezialhersteller Nexans, Hannover. Das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) hat im Rahmen des Projektes geeignete Supraleitermaterialien und Isolierstoffe entwickelt.

Herzstück des Supraleiterkabels sind drei ineinanderliegende Röhren. Sie bestehen aus dünnen, gewickelten Edelstahlbändern. Die besondere Eigenschaft verleiht ihnen eine kristalline Verbindung aus Yttrium-Barium-Kupferoxid (YBCO) mit der die Metallbänder nur wenige tausendstel Millimeter dick beschichtet sind. Die zu Röhren gewickelten Bänder bilden den eigentlichen Supraleiter. Dieser umschließt im Kabel eine weitere Röhre, in der flüssiger Stickstoff zugeleitet wird. Damit der Leiter den Strom annähernd verlustfrei transportieren kann, muss er auf rund minus 180 Grad Celsius heruntergekühlt werden. Erst bei der extremen Kälte gibt das Material seinen Widerstand auf. Die Rückleitung des Kühlmittels erfolgt in der äußeren Schicht des Kabels.

Das spezielle Material und die Kälte sorgen dafür, dass Ladungsträger ohne nennenswerten Widerstand durch den Supraleiter fließen. Im Prinzip, in der Praxis gibt es aber mehr zu beachten, verrät Joachim Knebel, Wissenschaftlicher Leiter am KIT. „Weil sich im Kabel unvermeidlich elektromagnetische Felder ausbilden, die den Stromfluss behindern würden, kommt es für den Einsatz von Supraleitern auf eine geschickte Anordnung des Leitermaterials an. Die beschichteten Metallbänder werden deshalb in besonderer Weise zu Röhren gewickelt. Dadurch heben sich die störenden Felder auf, und der Strom kann ungehindert fließen.“

Bei dem Essener Vorhaben werden auch neuartige Strombegrenzer eingesetzt. „Sie sorgen dafür, dass die Supraleitung etwa nach einem Kurzschluss oder einem Blitzschlag sofort wieder einsetzt“, erläutert Joachim Bock, Direktor Marktentwicklung und Vertrieb bei Nexans in Köln-Hürth. Kernstück ist ein Supraleiter, der beim Unterschreiten einer materialspezifischen Temperatur den elektrischen Widerstand fast völlig verliert. Normalerweise beeinflusst der in den Stromweg eingebaute Begrenzer die elektrische Leitung nicht. Steigt der Strom jedoch über einen bestimmten Schwellwert, bricht die Supraleitung zusammen. Innerhalb von Millisekunden baut sich ein elektrischer Widerstand auf. Der Kurzschlussstrom wird so automatisch begrenzt.

Ob sich die Umrüstung auf ein supraleitendes Stromnetz rechnet, hat das Konsortium in einer Studie bereits untersucht. Dafür haben die Wissenschaftler Daten des Stromnetzes von Essen über einen Zeitraum von 40 Jahren ausgewertet. Letztendlich, so das Ergebnis, erwies sich die supraleitende Technik günstiger als bisherige Kupferkabel.

Das vom Energieforschungsreferat des Berliner Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie mit rund sechs Millionen Euro ausgestattete, insgesamt 13,5 Millionen Euro teure Projekt könnte der Auftakt zur Umstrukturierung eines innerstädtischen Netzes in neuen Dimensionen sein. Nach erfolgreichem Abschluss des zweijährigen Feldversuchs sei durchaus vorstellbar, das Rückgrat des Essener Verteilnetzes weitgehend auf 10.000 Volt-Supraleiterkabel umzustellen, so die Forscher.

Ein ähnliches Projekt plant das US-Heimatschutzministerium zusammen mit mehreren heimischen Herstellern im New Yorker Stadtteil Manhattan. Dort soll ein 300 Meter langes 13.800 Volt-Supraleiterkabel, das über einen integrierten supraleitenden Strombegrenzer verfügt, die Energieversorgung sicherer und kostengünstiger machen. Beim Essener Projekt „Ampacity“ sind beide Komponenten noch voneinander getrennt.

Eingesetzt werden supraleitende Strombegrenzer auch für sich allein. Im Oberlausitzer Braunkohlekraftwerk Boxberg des Energieversorgers Vattenfall wurde die Technik schon 2009 erprobt, um Komponenten im Kraftwerk zu schützen, berichtet Nexans-Experte Bock: „Kurzschlüsse in Kraftwerken oder in Stromnetzen sind teuer. Das gilt nicht nur für den Schadensfall, wenn hohe Ströme Systemkomponenten beschädigen und Ausfallzeiten verursachen.“ Bei dem Versuch handelte es sich noch um einen Supraleiter der ersten Generation. Dieser basiert auf einem keramischen Material, einer Verbindung aus Wismut-Strontium-Calcium-Kupfer-Oxid, (BSCCO). Inzwischen wird im Kraftwerk ein Strombegrenzer der neuen Generation erprobt. YBCO-Supraleiter erreichen höhere Stromdichten und sind kostengünstiger als ihre Vorgänger.

Eines der ehrgeizigsten Projekte beim Einsatz von Supraleitern in der Elektrizitätsversorgung verfolgt das Projekt „Tres Amigas“ in den USA. Benannt nach dem Netzknotenpunkt in Clovis, New Mexiko, werden dort die drei großen kontinentalen Stromnetze, die Eastern Interconnection, die Western Interconnection und die Texas Interconnection miteinander verbunden. Die drei Netze laufen in einer 9,6 Kilometer langen Dreiecksverbindung zusammen. Ein entsprechend langes, unterirdisch verlegtes Supraleiterkabel wird mehr als fünf Gigawatt Strom zwischen ihnen übertragen. Im kommenden Jahr soll die neue Verbindung, die vor allem den Austausch regenerativ erzeugten Stroms besser regulieren soll, in Betrieb gehen.

Auch die Europäer setzen beim Ausbau erneuerbarer Energien auf die Supraleitertechnologie. Anfang des Jahres ist das EU-Projekt Suprapower (Superconducting, reliable, lightweight and more powerfull offshore wind turbine) an den Start gegangen. Darin entwickeln mehrere europäische Forschungsinstitute, darunter das Karlsruher KIT, zusammen mit Partnern aus der Industrie einen direkt angetriebenen, supraleitenden Generator für eine Offshore-Windkraftanlage von zehn Megawatt Leistung.

„Der innovative Direktantrieb senkt die Transport- und Wartungskosten und erhöht die Lebensdauer der Turbine. Neben der höheren Leistung ermöglichen supraleitende Generatoren, auch Größe und Gewicht der Windkraftanlagen deutlich zu verringern“, betont Holger Neumann, Leiter des Bereichs Kryotechnik am KIT. Außerdem benötige der Bau supraleitender Generatoren weniger als ein Hundertstel der Menge an Seltenen Erden. Sie sind für die Herstellung von derzeit häufig eingesetzten Permanentmagnet-Generatoren erforderlich.

„Bei tiefen Temperaturen leiten Supraleiter nicht nur den elektrischen Strom ohne Verluste, sie können auch ein Magnetfeld verlustfrei ‚einfrieren‘,“ erklärt Professor Ludwig Schultz, Direktor an dem Dresdner Leibniz-Institut für Festkörper- und Werkstoffforschung. Den Effekt demonstriert ein Stück tiefgekühlter Supraleiter. Wie von Geisterhand getragen schwebt der kleine Würfel über einem Permanentmagneten. Das von dem deutschen Physiker Walther Meißner und Robert Ochsenfeld 1933 entdeckte Phänomen ist nur mithilfe der Quantenphysik zu erklären.

Die Dresdner Wissenschaftler nutzen es für eine Magnetschwebebahn, die reibungslos fährt und – das sei der wesentliche Unterschied zum Transrapid – „dabei äußerst stabil schwebt“, betont Schultz. „SupraTrans“ heißt der zweisitzige Schienenflitzer, der in einer Halle auf einem 80 Meter langen Testparcour seine Runden dreht. Genauer gesagt schwebt das kleine Fahrzeug mit gut einem Zentimeter Abstand und mit maximal 30 Stundenkilometern über die magnetischen Schienen. Dafür sorgt ein auf minus 196 Grad gekühlter Supraleiter in seinem Innern. Die Forscher denken bereits an die Zukunft: eine Magnetschwebebahn, bei der Einzelkabinen autonom durch Städte fahren.

Die Supraleitung hat auch die Medizin erobert. Wer für eine bildgebende Untersuchung des Körperinneren in einen Kernspintomografen geschoben wird, kann die Technik hautnah erleben. Im Innern des Tomografen erzeugt eine große, isolierte Spule – sie besteht meist aus einem Niob-Titan-Supraleiter – ein gewaltiges Magnetfeld. Es übertrifft die Stärke des Erdmagnetfeldes um das 60.000-Fache. Damit die Supraleitung einsetzt, wird die Spule mit flüssigem Helium auf nur wenige Grad über den absoluten Nullpunkt von minus 273 Grad Celsius gekühlt. Mit der Technik lassen sich feinste Details in Organen und Gewebe präzise in ihrer räumlichen Ausdehnung als Schichtbilder darstellen. Oft wird das Verfahren eingesetzt, um Tumoren im Körper aufzuspüren.

In der Herzdiagnostik werden ebenfalls Supraleiter genutzt: Squid-Sensoren (Superconducting Intereference Device) erfassen winzige magnetische Felder, die bei der elektrischen Aktivität des menschlichen Herzens entstehen. Damit kann ein Magnetokardiogramm erstellt werden, das ein herkömmliches Elektrokardiogramm gut ergänzt.

Die Erzeugung gewaltiger Magnetfelder mithilfe der Supraleitung nutzt auch die Grundlagenforschung. In dem kilometerlangen Beschleuniger-Ring des Europäischen Zentrums für Kernteilchenforschung (Cern) bei Genf sorgen 1232 jeweils 30 Tonnen schwere Magnete dafür, dass sich die den Ring mit beinahe Lichtgeschwindigkeit durcheilenden Elementarteilchen präzise in einem knapp sechs Zentimeter dicken Strahl bündeln lassen. Das von allen Magneten mithilfe jeweils einer supraleitenden Spule erzeugte Feld ist rund 100.000 Mal stärker als das Erdmagnetfeld. Es hilft den Forschern, die exotischen Vorgänge, die während des Urknalls zur Erschaffung der Materie führten, künstlich nachzustellen.

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